• Patientin_mit_Therapieball
  • Grundlagen verschiedener Physiotherapien
    von Prof. Kai Paschen

Wahl der Therapieform


Bei der Auswahl der auf den Patienten optimal abgestimmten Therapie sind, aufgrund der pathophysiologischen Voraussetzungen und des Initial-Status des Patienten, die folgenden Kriterien grundsätzlich immer zu beachten.

1. Poliomyelitis und Post-Polio-Syndrom sind neurologische Erkrankungen und bedürfen daher einer neurologisch orientierten Therapie. Primär orthopädisch ausgerichtete Trainingstherapien sind in der Regel wenig hilfreich und daher nicht angezeigt.

2. Muskelaufbauende Therapien sind in der Regel obsolet, da sie durch weitere Überlastung des α–Motoneurons, dieses unnötig weiter überlasten und letztendlich absterben lassen.

3. Indiziert sind hingegen muskelerhaltende Therapien

4. Die Therapie muss schonend erfolgen. Tritt in der Folge ein Muskelkater oder dergleichen auf, war die Therapie bereits zu intensiv und muss in der Folge reduziert werden.

5. Da von Patient zu Patient das Lähmungsmuster sehr bunt, der Krankheitsverlauf bzw. die Lebens- und Berufsumstände der letzten Jahrzehnte sehr mannigfaltig und variabel und der Einsatz von Hilfsmitteln (Orthesen, Rollstühle, E-Rollstühle etc.) sehr unterschiedlich sind, muss der Behandlungsplan für jeden Patienten streng individuell gestaltet werden. Starre Behandlungsprogramme oder -schemata sowie Behandlungen in Gruppen sind daher in der Regel nicht indiziert, zumeist ziemlich ineffektiv und deswegen sinnlos und nur nutzlos wertvolle Ressourcen vergeudend.

6. Der Patient muss bei allen Therapien durch direkten Kontakt mit dem Therapeuten in seinem Bewegungsablauf geführt und kontrolliert werden. Das heißt, dass z. B. auch bei Therapien im Bewegungsbad der Therapeut mit im Wasser sein muss. Eine lediglich optische Kontrolle vom Beckenrand her ist ein leider immer noch allzu oft praktizierter therapeutischer Unsinn.

Optimales physiotherapeutisches Behandlungskonzept 

Grundlagen verschiedener Physiotherapien

Vorbemerkungen

Über die optimale physiotherapeutische Behandlung von Patienten im Polio-Spätstadium und beim Post-Polio-Syndrom herrscht im Allgemeinen eine erstaunliche, manchmal sogar erschreckende Unkenntnis. Dies ist für das Wohl und Wehe und die Gesundheit der Patienten oft nachteilig und gelegentlich sogar gefährlich. Weit verbreitet ist hier nämlich immer noch das uralte Behandlungsmotto, welches vor vielen Jahrzehnten bei den Patienten mit einer akuten Erkrankung an der Poliomyelitis (Kinderlähmung) praktiziert wurde: Maximales Muskeltraining zur Wiederherstellung der Beweglichkeit nach der Devise: "Üben, üben, üben und nochmals üben". Durch die großen Impfkampagnen in den 50er- und 60er-Jahren wurde die Polio bei uns praktisch aus dem medizinischen Alltag vertrieben, das Wissen über diese Infektionskrankheit, ihre Folgen und ihre Therapie geriet in Vergessenheit und es wurde kaum noch etwas darüber gelehrt. In den letzten Jahren konnten aber viele neue Erkenntnisse über die Polio-Spätstadien und das sog. Post-Polio-Syndrom gewonnen werden. Diese wichtigen Erkenntnisse – "was sollte man tun" und "was sollte man lieber nicht tun" – sind nicht nur in den physiotherapeutischen Abteilungen unserer Kliniken (von der Grund- und Regelversorgung bis hin zur Maximalversorgung) und vieler Reha-Einrichtungen, sondern auch in den Physiotherapie-Schulen weitgehend  unbekannt. Im Folgenden sollen daher die Grundlagen einer optimalen Physiotherapie bei diesen Patienten nach dem derzeitigen Stand von Wissenschaft, Technik und Langzeiterfahrung dargestellt werden. Dabei wird vor allem auf die, vielleicht nicht immer allen Therapeuten in der täglichen Arbeit so geläufigen, "Therapien auf neurophysiologischer Basis" eingegangen.

Pathophysiologische Konstellationen

Bei der paralytischen Form der Kinderlähmung kommt es zu "schlaffen“ Lähmungen. Diese entstehen dadurch, dass die durch das Poliovirus zerstörten motorischen Vorderhornzellen im Rückenmark (also die 2. motorischen Neurone oder sog. α–Motoneurone) ihre zugehörigen Muskelfasern nicht mehr versorgen. In der, auf die akute Infektions-Phase, folgenden Erholungs-Phase übernehmen nun benachbarte, mehr oder minder noch intakte, motorische Vorderhornzellen deren Aufgaben. Neue Nervenzell-Ausläufer (Dendriten) sprossen aus und versorgen, so weit möglich, die verwaisten Muskelfasern mit. Es tritt eine deutliche, aber meist nicht vollständige, muskuläre Erholungs-Phase ein. Dieser natürliche Reparaturvorgang funktioniert recht effektiv. Hatte so eine Zelle vorher einige wenige Muskelzellen zu versorgen, so hat sie nun einige hundert oder sogar tausende zu versorgen. Die sog. „motorische Einheit“ und damit der Aufgabenbereich und der Stoffwechsel der Nervenzelle wurden dadurch allerdings immens vergrößert. Klinisch tritt eine deutliche Besserung der Muskelkraft ein und viele Betroffene lernen in der Folgezeit wieder, sich besser zu bewegen oder gar zu laufen.
Auch nach Ablauf der akuten Erkrankung können weitere Folgen der Erkrankung auftreten. Da meistens Kinder von der Erkrankung betroffen sind, die sich ja noch in der Wachstumsphase befinden, resultiert durch die lähmungsbedingte unterschiedliche Belastung und den unterschiedlichen Einsatz der Extremitäten auch ein unterschiedliches Wachstum. Dadurch kann dann beispielsweise ein schwerer betroffener Arm kürzer und schmächtiger als der weniger oder gar nicht betroffene Arm sein. Im Bereich der Wirbelsäule kann es durch die Schwächen der Rumpfmuskulatur zu Deformitäten (Kyphosen und Skoliosen) kommen. Ebenso können durch Fehlstellungen Kontrakturen auftreten.
Als wahrscheinlichste Ursache für das Post-Polio-Syndrom (PPS) gilt eine Überlastung und Zerstörung verbliebener motorischer Nervenzellen, oft ausgelöst durch Stress. Schon während der Phase funktioneller Stabilität kann eine fortgesetzte Dysfunktion der α–Motoneurone festgestellt werden. Wenn dann eine gewisse Schwelle (Zerstörung von mehr als 50-60% der Motoneurone) überschritten ist, kommt es nach herrschender Lehr-Meinung zum Auftreten des PPS durch Dekompensation des seit der akuten Kinderlähmung bestehenden De- und Reinnervations-Prozesses.


Klinisch-neurologischer Befund-Status

Bei der Erhebung des Initial-Status zu Beginn der physiotherapeutischen Behandlung fallen in der Regel folgende Befunde besonders ins Auge:

1. Ein sehr buntes Bild stets schlaffer Paresen, wobei das Lähmungsmuster nicht symmetrisch, sondern bunt ge-mischt und meist proximal betont ist. Beim PPS können auch andere, von der früheren Poliomyelitis klinisch nicht befallene, Muskeln betroffen sein. Dies sind Muskelgruppen, die nicht sichtbar (also subklinisch) von der Poliomyelitis befallen waren.

2. Skelett-Deformitäten (Extremitäten- und/oder Wirbelsäule) mit daraus auf Dauer resultierenden Haltungsschäden. Demzufolge werden oft die passiven Halte- und Verriegelungsmechanismen überbelastet. Daraus resultieren zunehmend instabile Gelenke, erhöhter Verschleiß und Schmerzen mit entsprechenden Fehlhaltungen. Durch die dann benutzten Kompensationsmechanismen sind auch weitere, bis dahin noch scheinbar gesunde, Strukturen zusätzlich überlastet und geschädigt.

3. diffuse, schwer charakterisierbare Muskelschmerzen – vor allem nachts

4. Gelenkkontrakturen

5. Atemprobleme mit respiratorischer Insuf¬fizienz (Atemlosigkeit spontan und nach Anstrengung) und Schlafapnoe-Syndrom. Die Ateminsuffizienz wird sowohl durch PPS-bedingte Störungen des Atemzentrums mit daraus resultierender Schwäche der Atemmuskulatur hervorgerufen als auch durch mechanische Behinderung bei Skoliosen. Sie tritt oft erstmals anlässlich von Infektionen der Atemwege oder länger dauernden Narkosen in Erscheinung.

6. eine abnorme Kälteintoleranz

7. oft ausgeprägte Lymphödeme an den Beinen. Sowohl aufgrund der Inaktivität der Beinmuskulatur (Rollstuhlfahrer) als auch ohne erklärbaren Grund.

8. gelegentlich Schluckstörungen mit erhöhtem Aspirationsrisiko, Dysphagie, Dysarthrie und Heiserkeit

9. dann und wann Nervenschädigungen (z. B. Carpaltunnel-Syndrom) – meist durch sekundäre Schädigungen, insbesondere auch durch Hilfsmittelnutzung

10. gelegentlich Osteoporose



Bundesverband Poliomyelitis e.V.

  • Interessengemeinschaft von Personen mit Kinderlähmung
  • Freiberger Straße 33  |  09488 Thermalbad Wiesenbad